‏ Psalms 22

Der 22. Psalm zerfällt in zwei Hauptteile: Zuerst schildert der Psalmist seine Leiden, indem er zugleich seine Glaubenszuversicht zum Ausdruck bringt und Gott um Hilfe bittet (V1-22). Zweitens verkündigt er prophetisch die herrlichen Folgen dieser Leiden, die sich zunächst über Israel, dann aber auch über alle Völker, ja über alle künftigen Geschlechter erstrecken werden (V23-32). Eine Lage, wie sie der Leidende in diesem Psalm schildert, läßt sich weder im Leben Davids noch in dem Leben eines andern Frommen des Alten Bundes nachweisen. Auch kann weder David noch irgendein andrer eine solche Frucht seines Leidens erwartet haben, wie sie in dem zweiten Teil des Psalms geschildert wird. So ergibt sich deutlich, daß der Psalm eine prophetische Bedeutung hat. Er hat sich bis ins einzelne in dem Kreuzesleiden und in der darauf folgenden Verherrlichung Christi erfüllt. Das Kreuzesleiden wird so anschaulich geschildert, als hätten wir hier nicht eine Weissagung, sondern den geschichtlichen Bericht der Evangelien vor uns. Man vergleiche V1 mit Mt 27:46, Mr 15:34. V8 und 9 mit Mt 27:39-44. V13 und 14 geben eine anschauliche Schilderung von der Feindschaft der Obersten der Juden gegen den Herrn. V15 und 16 beschreiben die namenlosen Leiden des Gekreuzigten. Mit V17c ist zu vergleichen Lu 24:39, mit V19 Mt 27:35, Mr 15:24, Lu 23:34, Joh 19:23-24. — In Heb 2:12 wird Ps 22:23 dem auferstandenen und verherrlichten Erlöser in den Mund gelegt. Er, der Begründer des Heils, der durch Leiden vollendet worden ist, hat viele Söhne Gottes zur Herrlichkeit geführt, die er nun in wunderbarer Herablassung seine Brüder nennt und denen er in seiner Gemeinde die herrlichen Früchte seines Leidens mitteilt. Nachdem er sich selbst als Sündopfer dargebracht hat, richtet er jetzt seinem erlösten Volk in der Gemeinde das Dankopfer aus: er läßt im heiligen Abendmahl alle ohne Unterschied, Reiche und Arme, die seine Gnade anbetend suchen, an seinen himmlischen Segnungen Teil empfangen (V26-30). Und seine aus Israel und der Heidenwelt gesammelte Gemeinde wird nie untergehen. Bis in die späteste Nachwelt wird von Geschlecht zu Geschlecht verkündigt werden, daß Gott das große Werk der Errettung durch seinen leidenden Knecht vollbracht hat (V31-32). Bei den letzten Worten unseres Psalms denken wir an den Ruf des gekreuzigten Erlösers: "Es ist vollbracht!" Joh 19:30 Mit Ps. 22 vergleichen wir Jes. 53, wo das stellvertretende Leiden des Knechtes Gottes und die ihm zuteil gewordene Herrlichkeit noch klarer prophetisch geschildert werden.

Fußnoten

1 Dem Sangmeister, nach (der Melodie von:) "Hindin der Morgenröte" (?).
Der Ausdruck ist dunkel. Vielleicht ist damit die Melodie eines alten, mit diesen Worten beginnenden Liedes gemeint, nach der Ps. 22 gesungen werden sollte.
/ Ein Psalm Davids.
2Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?! / Ohne Hilfe zu finden, muß ich zu dir schrein. 3Mein Gott, ich rufe am Tage, doch du hörest mich nicht; / Auch (ruf ich) des Nachts, / Aber mein Klagen wird nicht gestillt. 4Und dennoch bist du der Heilige, / Über Israels Lobliedern
Die Gott in seinem Heiligtum dargebracht werden.
thronend.
5Dir haben unsre Väter vertraut, / sie haben vertraut: du hast sie errettet. 6Sie schrien zu dir und wurden frei, / Sie vertrauten dir und sind nicht zuschanden geworden. 7Ich aber bin ein Wurm
So hilflos und verachtet. vgl. Jes 41:14, 52:14
und kein Mensch, / Von den Leuten verhöhnt und verachtet vom Volk.
8Alle, die mich sehen, spotten mein, / Verziehen die Lippen, schütteln den Kopf:
Eine Gebärde des Staunens, des Spottes und der Schadenfreude. V9. folgen dann die Worte der Spötter.
9"Befiehl dich Jahwe — der rette ihn, / Er reiß ihn heraus, hat er Freude an ihm!" 10Ja,
Ja, du, o Gott, hast wirklich Wohlgefallen und Freude an mir; "denn du hast" usw.
du hast mich gezogen aus Mutterschoß, / Mit Vertrauen
Auf Gott.
mich erfüllt an der Mutter Brust.
11Auf dich bin ich gewiesen von Anfang an,
Wörtlich: "Auf dich bin ich geworfen von Mutterleibe an."
/ Seit meiner Geburt bist du mein Gott.
12Sei nicht fern von mir, denn Not ist nah — / Ich habe ja sonst keinen Helfer! 13Viele Stiere haben mich umringt, / Die Starken Basans umgeben mich.
Basan ist das Land jenseits des Jordans. Es war berühmt wegen seiner fetten Weiden und waldigen Berggegenden, wo es die stärksten, wildesten Stiere gab. "Starke Basans" bedeutet "Stiere".
14Ihren Rachen öffnen sie wider mich / Wie ein reißender, brüllender Löwe. 15Wie Wasser bin ich hingegossen, / All meine Gebeine sind auseinandergereckt.
Der Psalmist beschreibt nun, wie er mitten unter seinen grimmigen Feinden fast tot ist.
/ Es ist mein Herz wie Wachs, / Zerschmolzen in meinem Innern.
16Vertrocknet wie eine Scherbe ist meine Kraft, / Die Zunge klebt mir am Gaumen, / Und du lagerst mich in den Todesstaub. 17Ja, es haben mich Hunde umringt, / Eine Bösewichterrotte hat mich umkreist, / Sie durchbohren mir Hände und Füße.
Nach LXX
18Zählen könnt ich all meine Gebeine; / Sie aber freuen sich meiner Qual.
Während der Leidende auf seinen ausgespannten, todmüden Leib blickt, an dem alle Knochen hervortreten, weiden sich seine Feinde schadenfroh an seiner Qual.
19Sie teilen meine Kleider unter sich / Und werfen das Los über mein Gewand. 20Du aber, Jahwe, bleib nicht fern! / Meine Stärke, eil mir zu Hilfe! 21Rette mein Leben vom Schwert, / Aus der Hunde Gewalt reiß meine Seele.
Wörtlich: "meine Einzige" und darum Unersetzliche. Die Seele, das Leben, ist das einzige, das verlorengehen kann.
22Hilf mir doch aus des Löwen Rachen, / Aus der Büffel Hörnern mache mich frei! 23Dann will ich meinen Brüdern deinen Namen künden, / Inmitten der Gemeinde dir lobsingen:
Der Psalmist weiß, daß sein Leiden für die ganze Gemeinde Bedeutung hat. Sie soll darum die Botschaft seiner Rettung vernehmen. V24 folgt nun seine Heilsverkündigung, die sich an das ganze Israel richtet.
24"Die ihr Jahwe fürchtet, preist ihn, / Alle Nachkommen Jakobs, ehret ihn / Und scheut euch vor ihm, alle Israelsöhne! 25Denn nicht verachtet, nicht verschmäht er des Armen Qual, / Nicht hat er sein Antlitz vor ihm verborgen, / Und als er schrie, hat er ihn erhört." 26Dir gilt mein Lobpreis in großer Gemeinde. / Meine Gelübde bezahl ich vor allen Frommen. 27Essen sollen Demütige und satt werden; / Preisen werden Jahwe, die ihn suchen: / "Euer Herz soll sich laben auf ewig!"
Der aus seinem Todesleiden Errettete bringt nach seinem Danklied (V24-25) auch ein Dankopfer dar, wozu er die Demütigen, die irdisch und geistlich Armen, einlädt. V27c ist gleichsam der Segenswunsch des Gastgebers an seine und Jahwes Gäste, und der Wunsch will sagen: dieses Mahl schenke euch eine ewig währende Erquickung.
28Des gedenkend
An alles gedenkend, was den großen Gegenstand des Psalms bildet.
werden sich wenden zu Jahwe / Alle Enden der Erde; / Und niederfallen werden vor dir / Alle Geschlechter der Heiden.
Der Psalmist erwartet als Frucht der Verkündigung dessen, was Gott an ihm getan hat, die Bekehrung aller Völker. Wie weit reicht das über Davids Zeit und Geschichte hinaus!
29Denn Jahwes ist das Königtum, / Er ist aller Völker Herrscher. 30Niederfallen werden vor ihm alle Großen
Wörtlich: "alle Fetten".
der Erde, / Wenn sie gegessen haben.
Wenn sie die Segnungen des aus allen seinen Leiden erretteten Gerechten empfangen haben.
/ Vor ihm werden auch alle knien. / Die hinabfahren in des Grabes Staub
D.h. die vor Kummer und Elend fast schon gestorben sind.
/ Und die ihr Leben nicht fristen können.
31Die Nachwelt soll ihm dienen, / Man wird vom Herrn erzählen dem künftigen Geschlecht. Sie
Die zum Herrn Bekehrten.
werden kommen und seine Treue verkünden / Dem spätern Volk, daß er es vollbracht!
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