‏ Isaiah 1:6

Die Schuld des Volkes festgestellt

Bevor Juda die Anklageschrift in der Rechtssache mit dem HERRN hört, werden zunächst Zeugen aufgerufen (Jes 1:2), nämlich „Himmel“ und „Erde“. Jesaja ruft die Schöpfungswerke Gottes auf, Zeugnis abzulegen in Bezug auf den Bund mit dem HERRN, den sie gebrochen haben Das hat auch Mose beim Schließen des Bundes getan (5Mo 32:1).

Jesajas Botschaft richtet sich nicht nur an Israel, sondern auch an die Nationen (Jes 49:6), ja, an die ganze Schöpfung. Schließlich wird auch der Herr Jesus eine neue Schöpfung herbeiführen. Dies geschieht auf eine Art und Weise, die völlig öffentlich ist und daher von jedem beurteilt werden kann. Jeder wird anerkennen, wie gerecht der HERR alles gemacht hat. Weder Freund noch Feind, nicht einmal der Teufel, wird den Finger auf eine Ungerechtigkeit legen können.

Jesaja lässt den HERRN selbst sprechen. Sofort stellt sich der HERR als Vater seines Volkes – nicht des einzelnen Israeliten! – vor und sagt, dass Er „Kinder großgezogen“ hat. Wir sehen das in der Geschichte während der Regierungszeit von David und Salomo, wo das Volk zahlenmäßig groß wurde, also ein stattliches Volk geworden ist. Er hat das Volk aber auch „auferzogen“. Das bedeutet, dass das Volk erwachsen geworden ist und eine Stellung über alle Völker erlangt hat.

Trotz aller Fürsorge, mit der Er sie als seine Kinder behandelt (5Mo 14:1a) und umgeben hat, muss Er ihnen sagen, dass sie von Ihm „abgefallen“ sind. Sie sind zu rebellischen Kindern geworden, die von Ihm abgefallen sind. Das Wort „abgefallen“ ist ein zentraler Begriff in diesem Buch bis hin zum letzten Vers (Jes 66:24).

Die Tatsache, dass das Wort „sie“ betont wird, unterstreicht die Ernsthaftigkeit ihres Abfalls. Gerade von denen, die vom HERRN so vorzüglich großgezogen und auferzogen wurden und zur Reife gekommen sind, ist ein solches Verhalten nicht zu erwarten. Der Vorwurf ist deshalb völlig gerechtfertigt.

Darin hält Israel uns einen Spiegel vor. Wie steht es mit uns, die wir das persönliche Recht haben, Kinder Gottes zu sein, weil wir an den Namen des Herrn Jesus geglaubt haben (Joh 1:12; 1Joh 3:1)? Kennen wir unseren Gott, den Vater, in unserem praktischen Glaubensleben und sind wir Ihm geweiht? Was Gott an Israel als Volk getan hat, das hat Er auch an uns, die wir zur Gemeinde des lebendigen Gottes gehören, persönlich und geistlich getan. Die Geschichte von Israels Undankbarkeit und ihr Abfall ist „geschrieben worden zu unserer Ermahnung“ (1Kor 10:11).

Nachdem die „unbelebte“ Natur – Himmel und Erde – angerufen ist, werden zwei eigenwillige Tiere mit den zwölf Stämmen Israels verglichen (Jes 1:3; vgl. Jer 8:7). „Ein Ochse“ und „ein Esel“ kennen jeweils ihren „Besitzer“ und „die Krippe ihres Herrn“; sie wissen, dass sie bei ihm bleiben müssen, um ihre Nahrung zu erhalten. Er kümmert sich um sie. Hat nicht auch Gott für sein Volk gesorgt?

Aber das Volk ist dümmer als diese Tiere (vgl. Ps 73:22). Als Volk sind sie seine Kinder – Gott spricht immer noch von „meinem Volk“ – aber sie kennen ihren Vater nicht mehr. „Keine Erkenntnis“ oder „nicht wissen“ hat die Bedeutung von „keine Beziehung zu Ihm haben“. Infolgedessen fehlt ihnen auch ein grundlegendes „Verständnis“ für das, was der HERR von ihnen verlangt, und für die Situation, in der sie sich befinden. Bei ihnen gibt es keinerlei Erwägung vor dem Angesicht Gottes im Hinblick auf ihr Handeln als sein Volk.

Diese Beschreibung zeigt, zusätzlich zu dem in Jes 1:2 erwähnten Abfall, die völlige Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem, was Gott zusteht. Das Volk, das sein Besitz ist und für das Er gesorgt hat, ignorieren seine Liebe völlig.

Der Herr Jesus hat als Schöpfer ein Anrecht auf jeden Menschen. Durch sein Werk am Kreuz hat Er alle Menschen – gläubige und ungläubige – erkauft (2Pet 2:1). Durch dasselbe Werk hat Er als Retter alle erlöst, die glauben (1Pet 1:18; 19). Von ihnen ist Er der Eigentümer. Allerdings haben viele von Gottes Volk heute nicht das Bedürfnis nach der Nahrung, die Er für sie in seiner „Krippe“, die sein Wort ist, für sie zubereitet hat.

Die Doppelbeziehung des Volkes zum HERRN einerseits als Besitzer und andererseits als Herr ist ein Beispiel für uns:

1. Wir sind der Besitz des Herrn Jesus, Er hat uns gekauft, wir gehören Ihm und sind in allem, was wir benötigen, von Ihm abhängig;

2. Er ist unser Herr, wir sollen Ihm gehorchen.

In Jes 1:4 spricht Gott anhand von sieben Kennzeichen ihres verdorbenen Zustandes das „Wehe“ über sie aus. Diese Aufzählung kann in zwei Teile unterteilt werden.

In Teil 1 geht es um ihren Zustand als Volk (1 und 2) und als Familie (3 und 4):

1. Volk: „die sündige Nation“, ein Volk, dem das Ziel Gottes abhandengekommen ist. Sünde bedeutet im Hebräischen: das Ziel verfehlen, nämlich die Herrlichkeit Gottes (Röm 3:23).

2. Volk: „Volk, belastet mit Ungerechtigkeit“, das heißt ein verkehrtes und verdrehtes Volk.

3. Nachkommen: „Nachkommen der Übeltäter“, sie tun nur Böses und nichts Gutes.

4. Söhnen: „bösen Söhnen“, sie säen Bösartigkeit um sich herum.

In Teil 2 wird ihr innerer Zustand ausgedrückt: in ihren Herzen (5), in ihren Worten (6) und in ihren Taten (7). Sie haben

5. Ihn in ihrem Herzen verlassen,

6. Ihn mit ihrem Mund verschmäht, d. h. verachtet oder gelästert, und

7. sich in ihrem Wandel rückwärts ausgerichtet, sich von Ihm abgewandt, indem sie sich von Ihm entfernten und Ihm nicht mehr folgten.

Jeder Teil der aufgeführten Anklage steht in scharfem Kontrast zu dem, was Gott für sein Volk vorgesehen hat und auch erwarten durfte (2Mo 19:6a; 5Mo 14:1; 2; 1Pet 2:9). Beeindruckend ist, dass Er hier „der Heilige Israels“ genannt wird, ein Titel, der für Jesaja charakteristisch ist und für den er eine Vorliebe hat (siehe Einleitung unter „Einige charakteristische Ausdrücke“). Es bedeutet, dass der HERR nicht nur der größte Gott ist, nein, Er ist der Erste und der Letzte, ja, Er ist der allein wahre und einzige Gott. Es bedeutet auch, dass sein Name durch die Wiederherstellung Israels geheiligt werden wird (Mt 6:9b; Hes 36:22; 23).

Geistlich gesehen sind die Glieder des Volkes Gottes, wie Mose sagt, „ein Geschlecht voll Verkehrtheit …, Kinder, in denen keine Treue ist“ (5Mo 32:20b). Für sie gilt, was der Herr Jesus später in seinen Tagen auf der Erde zu den Juden sagt: „Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun“ (Joh 8:44a). Wir hören es auch in dem, was Er zu den Pharisäern und Sadduzäern sagt, wenn Er sie „Otternbrut“ nennt (Mt 3:7). Sie haben sich von Ihm abgewandt und Ihn verlassen, um den Götzen zu dienen.

Wegen ihrer Abweichung musste der HERR sie züchtigen. Er will sie dadurch zu sich selbst zurückbringen. Er fragt sie nun: „Warum solltet ihr [noch] weiter geschlagen werden?“ (Jes 1:5a). Er sagt gewissermaßen: „Ist es noch nicht genug gewesen? Hat es einen Sinn, euch noch mehr zu schlagen?“ (Jer 2:30a; Jer 5:3).

Der HERR hat sie überall geschlagen, an allen Orten, durch Plagen und feindliche Völker. Er hat sie so oft geschlagen, sodass es keine Stelle mehr gibt, wo Er sie noch schlagen könnte. Auf immer neue Weise hat Gott sie seine Zucht spüren lassen, aber alles war vergeblich. Neue Züchtigung scheint keinen Sinn zu machen, denn sie fahren fort, nur den Abfall zu mehren. Sie sind völlig unempfindlich und gleichgültig gegenüber jeglicher Art von Zucht geworden. Und das trotz der Strenge und Härte aller Züchtigungen. Der Prophet weist in den Jes 1:5b-7 darauf hin.

„Das ganze Haupt“, „das ganze Herz“ (Jes 1:5b), ja der ganze Körper „von der Fußsohle bis zum Haupt“ (Jes 1:6a), also äußerlich und innerlich, ist von Gott abgefallen und hat seine Züchtigung zu spüren bekommen. Haupt und Herz regieren den Körper. Mit „dem Haupt“ ist möglicherweise der König gemeint (2Chr 28:22) und mit „dem Herzen“ das gesamte gesellschaftliche Leben. Sie sind krank im Kopf und abgestumpft im Herzen. Wenn Kopf und Herz krank sind, ist der ganze Körper krank. Es ist „nichts Gesundes“ vorzufinden. Sie können nicht mehr gut mit dem Kopf denken und sie sind mutlos im Herzen, sie haben keine körperliche Kraft mehr. Dennoch nehmen sie keine Zuflucht zu Ihm. Wenn sie überhaupt noch etwas empfinden, dann greifen sie zu den Götzen (2Chr 28:22; 23).

Ihre nationale Existenz besteht aus offenen, schmerzhaften, eiternden „Wunden und Striemen und frischen Schlägen“. Aber sie bitten Gott nicht um Behandlung. Die Wunden werden „nicht ausgedrückt und nicht verbunden und nicht mit Öl erweicht“. Sie sind in einem so schlechten moralischen Zustand, dass ihre böse Verfassung sie überhaupt nicht stört und kein Bedürfnis nach Genesung vorhanden ist.

Nicht nur ihr Leben beweist ihre Untreue, sondern auch der Zustand des Landes bezeugt es, denn es „ist eine Wüste“ (Jes 1:7). Jesaja spricht von „eurem Land“. Der HERR hat ihnen dieses Land gegeben, damit sie darin wohnen und seine Früchte genießen können. Dass das Land eine Wüste ist, wird am Anfang und am Ende von Jes 1:7 gesagt. Es steht in direktem Zusammenhang mit dem Fluch, den Mose für den Fall der Untreue des Volkes voraussah (3Mo 26:33b; 5Mo 28:49-52). Der Prophet Jesaja verwendet die Worte Moses und wendet sie auf seine Zeit an. Die Verwüstungen sind die Folge des Angriffs der Assyrer (Jes 36:1).

Der Prophet spricht auch von „eure Städte“ und „eure Äcker“. Es ist ihnen alles gegeben, um in ihnen zu wohnen und von ihnen zu leben. Doch von den Städten ist nichts mehr übrig. Sie werden mit Feuer verbrannt, es gibt keinen Platz mehr zum Leben. Was die Äcker hergeben, wird vor ihren Augen von „Fremden“, d. h. dem Feind, der im Land ist, „verschlungen“. Sie haben das Land „umgekehrt“. Ihre Treulosigkeit hat alles auf den Kopf gestellt. Es gibt keinen Platz mehr für den HERRN, und deshalb werden sein Volk und die Früchte des Landes den Nationen überlassen. Das Land ist das Land des HERRN (3Mo 25:23), aber die Verwalter haben sich das Erbe widerrechtlich angeeignet (Mt 21:38).

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