‏ John 18

Judas kommt, um den Herrn gefangen zu nehmen

Mit diesem Kapitel beginnt die Leidensgeschichte, die jedes Evangelium auf seine eigene, besondere Weise behandelt. Nirgendwo aber sehen wir inmitten all der Leiden so sehr die Größe des Herrn Jesus wie in diesem Evangelium. Keine Leidensart und -tiefe ist Ihm erspart geblieben, und in allen Leiden erstrahlt die Herrlichkeit des Sohnes des Vaters in nicht zu übertreffender Weise.

Nach seinen Gesprächen mit den Jüngern (Kapitel 13–16) und seinem Gebet zum Vater für sie (Kapitel 17) geht Er hinaus. In diesen einfachen Worten „ging Er … hinaus“ sehen wir seine Erhabenheit. Wir begegnen diesem Ausdruck mehrmals (Joh 18:4; Joh 19:5; 17). Er geht hinaus, um sich in die Hände von Sündern zu begeben. Niemand zwingt Ihn dazu, Er geht freiwillig. Niemand nimmt Ihn gefangen, sondern Er lässt sich gefangen nehmen. Die Initiative geht von Ihm aus, so wie schon früher in diesem Evangelium, vor allem aber in den jetzt bevorstehenden Stunden.

Er geht mit seinen Jüngern über den Bach Kidron. Dieser Bach hat Ihn zweifellos an David erinnert, der diesen Bach auch einmal überquert hat, und zwar als er – auch als leidender König – vor seinem Sohn floh (2Sam 15:23). Der Herr Jesus aber ist nicht auf der Flucht, sondern Er geht den Weg des Vaters.

So kommt Er in einen Garten, dessen Namen wir aus den anderen Evangelien kennen: Gethsemane. Hier allerdings lesen wir nichts von seinem Gebetskampf und seinem Schweiß, der wie große Blutstropfen wurde. Er ist hier der Sohn, der bis zum Ende seines Lebens auf der Erde das Werk der Verherrlichung des Vaters in vollkommener Hingabe ausführt.

In großem Kontrast dazu schildert Johannes einen Menschen, der auch in völliger Hingabe ein Werk vollbringt, aber das Werk des Teufels. Judas benutzt seine Kenntnis des Ortes, von dem er wusste, dass der Herr sich oft mit seinen Jüngern dort aufhielt. Er war dort immer dabei gewesen. Jetzt kommt er auch dorthin, nun aber nicht, um Ihm zuzuhören, sondern mit dem teuflischen Plan, Ihn gefangen zu nehmen.

Judas kommt mit einer großen Anzahl von Kampfgenossen, weil sie alle die Macht Christi fürchten. Der Satan will nicht, dass seine Handlanger nur halbe Sachen machen; sie sollen auf „Nummer sicher“ gehen. Die Heeresabteilung und die Diener haben Leuchten und Fackeln dabei, um Ihn, der das Licht der Welt ist, zu suchen. Sie sind auch bewaffnet, als ob es hier um einen Schwerverbrecher ginge, obwohl Er niemals seine Hand gegen irgendjemand erhoben hat. Judas kennt den Sohn ebenso wenig wie die, die er anführt. So blind ist der Mensch!

Der Herr fragt, wen sie suchen

In der Ihm eigenen vollkommenen Kenntnis weiß der Sohn, was geschehen wird. Er ist der Allmächtige und der Allwissende. Alles Licht fällt auf seine göttliche Herrlichkeit. Nicht Judas kommt auf Ihn zu, um Ihm den Kuss des Verräters zu geben, sondern Er selbst geht erneut hinaus, seinen Feinden entgegen. Hier ist nur einer, der die Hauptrolle spielt; alle anderen sind lediglich Statisten. Bevor sie ein Wort sagen können, fragt Er sie, wen sie suchen. Er kennt ihre Absicht und weiß, wen sie suchen. Doch Er stellt diese Frage, um ihnen ihr eigenes Inneres aufzudecken und auch, um seine Jünger zu schützen.

Sie spüren die Autorität, mit der diese Frage gestellt wird, und müssen Ihm darauf eine Antwort geben. Möglicherweise haben sie Ihn im Dunkel der Nacht nicht sofort erkannt. Der Herr Jesus war ja nicht jemand, der besonders auffiel. Er war nicht von einem Heiligenschein umgeben, der Ihm eine besondere Ausstrahlung verliehen hätte und von jedem wahrgenommen worden wäre. Auf seine Frage antworten sie, dass sie „Jesus, den Nazaräer“ suchen, den geringen Mann aus dem verachteten Nazareth (Mt 2:23). Dennoch spricht göttliche Herrlichkeit aus seiner Antwort. Er spricht einfach seinen Namen aus: „Ich bin“ (siehe 2Mo 3:13; 14). Damit offenbart Er sich als Jahwe.

Um den Gegensatz zu betonen, teilt der Evangelist Johannes uns mit, dass Judas, von dem er noch einmal erwähnt, dass der „ihn überlieferte“, jetzt bei den Feinden Christi steht. Nur wenige Stunden zuvor hatte Johannes beim Passahmahl zusammen mit Judas zu Tisch gelegen. Nun aber steht Judas bei den Feinden des Herrn. Die ganze Truppe, angeführt von Judas, steht in der Gegenwart des allmächtigen Gottes, des „Ich bin“, ohne von Ihm verzehrt zu werden.

Es geschieht etwas ganz anderes. Die Antwort, die ihnen deutlich macht, wer es ist, den sie suchen, beraubt sie aller Kraft, Ihn zu greifen. Sie weichen zurück, wie von einer mächtigen Hand zurückgehalten. Sie fallen sogar zu Boden. Es steht nicht dabei, ob sie vornüber oder rücklings gefallen sind, aber ich setze voraus, dass sie alle, Judas eingeschlossen, vornüber gefallen sind, in erzwungener Anerkennung seiner Majestät nach dem Aussprechen seines Namens (vgl. Phil 2:10). Ebenso leicht hätte Er sie, wie gesagt, verzehren können, aber die Stunde seiner Übergabe war jetzt gekommen.

Er fragt sie noch einmal, wen sie suchen. Dabei hat man den Eindruck, Er wolle ihnen eine letzte Chance geben, zur Besinnung zu kommen. Trotz der Offenbarung seines Namens und der darin zum Ausdruck gekommenen Macht, durch die sie gezwungen waren, vor Ihm niederzufallen, bleiben sie bei ihrem Plan. Ihre Antwort lautet wieder: „Jesus, den Nazaräer.“ Darauf antwortet Er, dass sie, wenn sie Ihn suchen, seinen Jüngern freien Abzug gewähren müssen. Er musste, so wie die Bundeslade am Jordan, allein in die Wasser des Todes hineingehen, damit das Volk verschont bliebe. Der Hirte stellt hier sein Leben vor die Schafe.

Sein Wunsch nach freiem Abzug für seine Jünger ist zugleich ein Befehl, dem nicht widersprochen werden kann und dem Folge geleistet wird. Hiermit wird das Wort erfüllt, das Er in seinem Gebet an den Vater gerichtet hat (Joh 17:12). Schon früher hatte Er in Bezug auf seine Schafe gesagt, dass niemand sie aus seiner Hand rauben kann (Joh 10:28).

Schwert und Kelch

Nicht nur die Volksmenge und Judas werden in der Gegenwart des „Ich bin“ in ihrer ganzen Nichtigkeit entblößt! Auch der am meisten herausragende seiner Jünger wird in seiner Gegenwart offenbar. Ebenso wenig, wie Waffengewalt bei seiner Gefangennahme irgendetwas ausrichtet, kann auch das Schwert des Petrus zu seiner Verteidigung beitragen. Ein Schwert, das ungefragt in seinem Dienst zum Einsatz kommt, bewirkt nur Schaden.

Das übereifrige und dadurch falsche Handeln des Petrus gibt dem Herrn Gelegenheit, zu zeigen, dass Er mit den Gedanken des Vaters vollständig übereinstimmt. Auch jetzt, da die religiösen Führer als seine entschiedenen Gegner Hand an Ihn legen, nimmt Er den Kelch des Leidens aus der Hand des Vaters an.

In den anderen Evangelien wird beschrieben, wie Er in heftigstem Seelenkampf den Vater bittet, diesen Kelch an Ihm vorübergehen zu lassen. Hier hat Er den Kampf hinter sich und sieht nur noch den Weg des Vaters vor sich. Könnte es für Ihn etwas anderes geben, als den Kelch aus der Hand des Vaters Hand anzunehmen? Weil Er aber diesen Kelch ausgeleert hat, können wir den „Becher der Rettungen“ empfangen (Ps 116:13) als einen „Kelch der Segnung“ (1Kor 10:16).

Vor Annas

Im Folgenden sehen wir sowohl die Demut und die Würde des Sohnes wie auch seine unendliche Erhabenheit über alle, die Ihn umringen, seien es nun seine Freunde oder seine Feinde. Wir sehen seine vollkommene Unterwerfung und seine unverminderte Kraft. In der grenzenlosen Erhabenheit lässt Er sich von bösen Menschen greifen und binden. Es ist eine Szene größtmöglicher Gegensätze, wie wir im Weiteren noch ausgiebig sehen werden.

Wir sehen den Menschen, der unter Anführung Satans den Sohn Gottes ergreift und bindet, als sei Er ein Übeltäter – Ihn, der ihnen nur Gutes getan und ihnen seinen Vater offenbart hatte, damit auch sie Ihn kennenlernen könnten, so wie Er Ihn kennt. Er, der Allmächtige, der durch das bloße Aussprechen seines Namens sie alle zu Boden fallen ließ, wird von ihnen in Fesseln gelegt.

Es sieht so aus, als könne der Mensch tun, was er will. Doch durch den Glauben können wir hier sehen, dass der Sohn sich dem Menschen unterwirft, um die Ratschlüsse des Vaters zu erfüllen. Nur deshalb lässt Er sich von ihnen führen, wohin sie wollen. So bringen sie Ihn zuerst zu den religiösen Führern mit ihrem Oberhaupt Annas.

Eigentlich ist ja Kajaphas der Hohepriester, aber es sieht so aus, als habe Annas die Gesamtleitung inne. Schon seit geraumer Zeit war das Hohepriestertum in Verfall geraten und von Gottes ursprünglicher Absicht völlig abgewichen (Lk 3:2). So gab es mehrere Hohepriester, die gemeinsam oder abwechselnd die Leitung hatten (Apg 4:6). Das war ein klarer Verstoß gegen das Gebot Gottes, der angeordnet hatte, dass ein Hoherpriester sein ganzes Leben lang dieses Amt ausüben und erst bei seinem Tod von seinem Sohn abgelöst werden sollte (4Mo 20:28).

Das Abweichen von Gottes ursprünglicher Absicht ist ein schwerwiegender Verstoß, der im Dienst Gottes große Verwirrung zur Folge hat. Menschliche Willkür und politische Kalküle bestimmten die Einsetzung des Hohenpriesters. Sowohl Annas als auch Kajaphas waren von den Repräsentanten der römischen Besatzung eingesetzt. Wenn jemand beginnt, vom Wort Gottes abzuweichen, läuft es darauf hinaus, dass er den Sohn des Vaters vor Gericht zieht und Ihm Taten vorwirft, die Er nie begangen hat. Das bedeutet aber nicht, dass Gott die Kontrolle verliert. Im Gegenteil, es verläuft alles, wie Gott es will.

Johannes weist noch einmal auf die von Kajaphas ausgesprochene Prophezeiung hin und erinnert uns so daran, dass Gott die Regie behält (Joh 11:50). Gott lenkt alles, was geschieht, und lässt dabei sogar einen gottlosen Hohenpriester Dinge aussprechen, die genau das aussagen. Der Mann, über den geweissagt wird, ist auch der Mann, der die Weissagung erfüllt. Der Plan, den sie in ihrer Bosheit entwerfen, führt letzten Endes nur zum Lob Gottes (siehe Ps 76:11).

Die erste Verleugnung des Petrus

Während der treue Zeuge wegen seiner Treue gegenüber dem Vater abgeführt und misshandelt wird, wird unser Augenmerk auch regelmäßig auf den Jünger Petrus gelenkt. So sehen wir abwechselnd den treuen Herrn und den untreuen Petrus. Die beiden Szenen werden miteinander verwoben. Die Vollkommenheit des Sohnes strahlt immer heller hervor, die Untreue des Petrus aber führt ihn immer weiter in die falsche Richtung.

Petrus ist zuerst geflohen, dann aber zurückgekommen, um bei seinem Herrn zu sein. Er geht dazu aber einen Weg, den er nicht gehen kann. Er folgt dem Herrn auf einem Weg, den Er ganz allein gehen muss. In seiner Liebe zum Herrn will Petrus bei Ihm bleiben, aber er tut das in eigener Kraft. Petrus benutzt die Tatsache, dass jener „andere Jünger“ (höchstwahrscheinlich Johannes) dem Hohenpriester bekannt ist, um bis in dessen Vorhof zu gelangen. Auch Johannes ist also von seiner Flucht umgekehrt, um bei dem Herrn Jesus zu sein.

Über das, was Johannes tut, wird hier kein Werturteil abgegeben, weder Zustimmung noch Ablehnung, wohl aber über das Verhalten und die Worte des Petrus. Was für Johannes vielleicht erlaubt ist, gilt für Petrus jedenfalls nicht. Für Johannes ist die ganze Begebenheit völlig unproblematisch; ihm werden keine Fragen gestellt. Es heißt einfach: „[Er] ging mit Jesus hinein in den Hof des Hohenpriesters.“ Auch er will gern dort sein, wo sein Herr ist. Es sieht aber so aus, dass auch er nicht als Jünger des Herrn hineingegangen ist, sondern weil die Türhüterin ihn kannte. Aufgrund seiner Fürsprache darf auch Petrus hinein. Die Magd kennt zwar Johannes, Petrus aber nicht.

Dass ihr allerdings die Jüngerschaft des Johannes nicht unbekannt war, ergibt sich aus ihrer Frage an Petrus, ob nicht „auch“ er ein Jünger „dieses Menschen“ sei. Das leugnet Petrus sofort mit der kräftigen Aussage: „Ich bin es nicht.“ Was für einen gewaltigen Gegensatz bildet dieser Ausspruch zu dem, was der Herr wahrheitsgemäß gesagt hat! Der Herr sprach der Wahrheit gemäß: „Ich bin es“; Petrus spricht die Unwahrheit: „Ich bin es nicht“.

Den Feinden Christi ist es kalt, und sie haben deshalb ein Feuer gemacht. Dort stehen sie nun und wärmen sich. Auch Petrus spürt die Kälte und schließt sich ihnen an. Für ihn wird es wohl in zweifacher Hinsicht kalt gewesen sein: wegen der äußeren Temperatur, aber auch wegen der Temperatur in seinem Innern. Seine erste Verleugnung hat ihn noch nicht wachgerüttelt. Er bleibt in dieser Umgebung, in der die Feindschaft gegen den Herrn mit Händen greifbar ist, was unvermeidlich zu einem weiteren Fall führen wird.

Der Herr Jesus vor Kajaphas

Während Petrus Ihn verleugnet hat und bei seinen Feinden steht, um sich zu wärmen, wird der Herr Jesus von Kajaphas zuerst über seine Jünger und danach über seine Lehre befragt. Was jemand lehrt, kommt in seinen Schülern zum Ausdruck. Was hätte Er auf die Frage nach seinen Jüngern antworten sollen, von denen einer Ihn verraten hatte, ein anderer gerade dabei war, Ihn zu verleugnen, während alle anderen von Ihm geflohen sind?

Auf die Frage nach seinen Jüngern gibt der Herr keine Antwort. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass Er sich seiner Jünger schämte. Im vorigen Kapitel hatte Er sie doch im Gebet vor seinen Vater gebracht als solche, die an Ihn geglaubt und das Wort des Vaters gehalten haben. Er beantwortet diese Frage nicht, weil Er, wie wir anlässlich seiner Gefangennahme gesehen haben, zu der Volksmenge gesagt hat: „Lasst diese gehen!“

Er antwortet wohl auf die Frage nach seiner Lehre. Diese Antwort ist erhaben und klar an das Gewissen gerichtet, um den Hohenpriester der Sünde zu überführen, die er zu begehen im Begriff steht. Er stellt ihn durch seine Antwort voll ins Licht. Seine Antwort dient auch nicht der Verteidigung. Er hat nicht den geringsten Grund, sich zu verteidigen. Alles, was Er gesagt und getan hat, ist ja völlig offenbar und durchsichtig. Er ist ein Mensch, der wirklich nichts zu verbergen hat.

Seine Antwort ist eine Gegenfrage, mit der Er beweist, wie untauglich die Frage des Hohenpriesters ist. Auch weist Er damit die Rechtmäßigkeit und die Gültigkeit dieses Verhörs zurück. Er tut das nicht formell, sondern auf friedvolle und erhabene Weise. Wenn der Hohepriester etwas über seine Jünger und seine Lehre wissen wolle, möge er doch die Menschen befragen, die Ihn haben predigen hören. Sie wissen doch, was Er gesagt hat!

Die sanfte und korrekte Antwort bringt einen übereifrigen Diener des Hohenpriesters dazu, Ihm ins Gesicht zu schlagen. Und es ist niemand da, der diesen Diener daran hindert oder ihn zur Rede stellt. Gottlosigkeit und Herzlosigkeit sind die diesem Prozess zugrundeliegenden Motive. Was für ein Prozess! Aber auch der Herr wehrt dem Diener nicht. Was für ein Herr!

Der Diener meint, Ihn wegen der Antwort, die Er dem Hohenpriester gegeben hat, schlagen zu müssen. Auch er ist Teil dieses gottlosen Systems, in dem keinerlei Empfinden mehr für das vorhanden ist, was vor Gott rechtens ist. Er ist der Ansicht, dass der Gefangene der allerhöchsten Autorität auf religiösem Gebiet unverschämt geantwortet hat und dass ein Schlag ins Gesicht Ihn zur Ordnung – zu ihrer Ordnung – rufen solle.

Der Herr braucht sich nicht zu entschuldigen. Er weiß, dass Er nichts Falsches getan hat oder sich irgendwie hätte gehen lassen. Als der große Diener Paulus später in eine ähnliche Situation kommt, muss er sich wohl entschuldigen (Apg 23:5). Der Sohn ist in allen Umständen vollkommen. Er wird zu Unrecht geschlagen. Und doch droht er nicht, sondern rügt mit eindrucksvoller Würde und völliger Ruhe und erträgt die Beleidigung. Er erkennt den Hohenpriester in keinerlei Hinsicht an, doch zugleich widersetzt Er sich ihm keineswegs. Er überlässt ihn seiner eigenen Niedertracht, Rechtlosigkeit und Untauglichkeit.

Der Sohn strahlt hier eine einzigartiger Würde und Erhabenheit aus. Was für ein Gegensatz zu dem versagenden Petrus! Er bittet sie, zu bezeugen, was Er Verkehrtes gesagt habe. Können sie aus seinem ganzen Leben auch nur ein einziges Beispiel für eine unrichtige Aussage von Ihm anführen? Im Gegenteil, auch die Diener, die Ihn gefangen nehmen wollten, haben bezeugt, dass noch nie ein Mensch so gesprochen habe wie dieser (Joh 7:46).

Es gibt nicht nur keinen Zeugen für eine von Ihm ausgesprochene Falschaussage, sondern es sind genügend Zeugen da, die das von Ihm ausgesprochene Gute bestätigen. Und wenn das so ist, dann ist auch die Frage berechtigt, warum der Diener Ihn schlägt – eine eindringliche Frage, auf die aber keine Antwort kommt.

Weil der Herr zu Annas gebracht worden ist (Joh 18:13), das Verhör aber von Kajaphas geführt wird, berichtet Johannes, dass der Herr inzwischen von Annas an Kajaphas überstellt worden ist. Er erwähnt das aber erst am Ende des Verhörs durch Kajaphas, um den Lesern deutlich zu machen, dass Annas der eigentliche Anführer der ganzen Aktion ist.

Die zweite und dritte Verleugnung

Wieder wird unser Augenmerk für einen Augenblick vom Herrn weg auf Petrus gelenkt. Während der Herr Jesus verhört und geschlagen wird und der Wahrheit Zeugnis gibt, steht Petrus immer noch im Kreis der Spötter und wärmt sich. Auch ihm wird eine Frage gestellt, nun zum zweiten Mal. Wie schon beim ersten Mal wird er gefragt, ob er nicht auch ein Jünger des Herrn sei. Und auch jetzt leugnet er das mit den Worten: „Ich bin es nicht“.

Dann wird Petrus ein drittes Mal nach seiner Beziehung zum Herrn befragt, jetzt von jemandem, der meint, Petrus im Garten bei der Gefangennahme des Herrn gesehen zu haben. Bei der Gelegenheit hatte Petrus ja ganz besonders die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, indem er von seinem Schwert Gebrauch gemacht hatte. Der Mann, der ihn wiederzuerkennen glaubt, ist ein Blutsverwandter dessen, dem Petrus das Ohr abgeschlagen hat. Der wird wohl nicht gerade Sympathie für Petrus empfunden haben; seine Frage wird wohl drohend geklungen haben. Wenn das tatsächlich der Mann ist, der seinem Angehörigen so übel mitgespielt hat, dann wäre jetzt der Augenblick der Vergeltung gekommen! Aber Petrus verleugnet wieder seine Beziehung zum Herrn und sagt damit, es sei unmöglich, dass dieser Mann ihn zusammen mit dem Herrn gesehen habe, als Er gefangen genommen wurde.

In diesem Augenblick kräht der Hahn. Aus den anderen Evangelien wissen wir, dass dadurch unmittelbar das Gewissen des Petrus vollständig erwacht. Johannes spricht aber nicht darüber. Am Ende seines Evangeliums wird er über die Wiederherstellung des Petrus schreiben – eine Wiederherstellung, die bei einem anderen Kohlenfeuer stattfindet.

Pilatus und die Juden

Nachdem der Herr vor den religiösen Autoritäten gestanden hat, wird Er nun der zivilen Obrigkeit vorgeführt. Überall wird Er verspottet. So machen sie das Maß ihrer Sünden voll, und das umso mehr, je länger die Langmut Gottes anhält. Nachdem sie die ganze Nacht hindurch mit Ihm beschäftigt gewesen sind, bringen sie Ihn frühmorgens zum Prätorium, dem Amtssitz des Pilatus.

Wieder erkennen wir die große Heuchelei der Juden, diesmal in ihrer Weigerung, das Prätorium zu betreten. Sie empfinden es als Verunreinigung, in dieses Gebäude eines Heiden hineinzugehen, während sie doch zugleich auf Mord bedacht sind und falsche Zeugen gegen den Sohn Gottes suchen! Zu was für Taten ist das religiöse Fleisch doch imstande! Sie entfalten einen Rieseneifer um der Reinheit willen, die zu ihren Feierlichkeiten gehört, sind aber völlig gleichgültig in Bezug auf wirkliche Gerechtigkeit. Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, dass sie das wahre Passah zu Tode bringen. Auch begreifen sie nicht, dass sie so in schuldigem Unglauben und zu ihrem eigenen Verderben die Stimme des Gesetzes erfüllen – völlig unabhängig von den Plänen Gottes im Hinblick auf den Tod Christi.

Nachdem sie Ihn zum Prätorium geführt haben, geht Pilatus zu ihnen hinaus. Er muss das wohl tun, da ja die Juden, um sich nicht zu verunreinigen, auf keinen Fall zu ihm hineingehen wollen. So fragt er nun nach der Anklage, um zu erfahren, warum sie den Gefangenen gebracht haben. Um jemanden verurteilen zu können, ist doch in jedem Fall eine Anklage erforderlich! Die Juden beantworten die Frage des Pilatus nicht, sondern empören sich über seine Frage: Heuchlerisch entrüsten sie sich, sie seien doch nicht so ungerecht, ihm jemanden vorzuführen, der kein Übeltäter ist! Das hätte Pilatus doch wissen müssen!

In dem jetzt folgenden Wortwechsel zwischen Pilatus und den Juden versuchen sie sich gegenseitig die Verantwortung für ein Todesurteil über den Herrn Jesus zuzuschieben. Er genehmigt ihnen, Christus nach ihrem Gesetz abzuurteilen, die Juden wollen das aber nicht. Es geht nicht darum, dass sie das nicht wollen oder nicht wagen. Sie wollen einen offiziellen Schuldspruch, dessen Rechtsgültigkeit später nicht etwa angezweifelt werden kann. Mit dem Verweis auf das römische Recht, nach dem sie selbst kein Todesurteil vollstrecken dürfen, schieben sie die Verantwortung wieder Pilatus zu. Damit beweisen sie, wie durchtrieben sie sind: Sobald es ihnen passt, berufen sie sich auf die Staatsgewalt, die sie doch so hassen!

Doch weder Pilatus noch die Juden legen die Hinrichtungsart fest, gemäß welcher der Herr Jesus sterben soll. Er wird nicht die jüdische Todesstrafe erleiden, die durch Steinigung vollzogen wurde. Er muss den Tod am Kreuz sterben, gemäß der Gewohnheit der Römer. Das hat Er selbst vorausgesagt (Joh 3:14; Joh 8:28; Joh 12:32; 33). Auf diese Weise werden sowohl Juden als Heiden an seinem Tod schuldig sein (Apg 4:27; 28).

Das gute Bekenntnis

Johannes lässt viele Einzelheiten der Befragung durch Pilatus weg, von denen die anderen Evangelisten wohl berichten. Er erwähnt nur die Worte und Ereignisse, die bestimmte Aspekte der Herrlichkeit des Sohnes offenbaren. Wieder befragt Pilatus Ihn – jetzt nach seiner Königsherrschaft über die Juden. Dieses Verhör findet im Prätorium statt, also ohne dass Juden dabei anwesend sind. Für Pilatus als römischen Gouverneur ist die entscheidende Frage, ob er es hier in der Tat mit jemandem zu tun hat, der sich als König der Juden aufwirft.

So steht hier der Repräsentant der Weltmacht Rom dem gegenüber, der das ganze Weltall lenkt und der als Gottes König über alles regieren wird. Gottes König wird aller irdischen Macht ein Ende bereiten, indem Er als ein Stein die Weltmächte zermalmt (Dan 2:34). Der Herr Jesus antwortet Pilatus mit derselben Ruhe und Demut, die Er bei dem Verhör durch den Hohenpriester gezeigt hat. Auch hier dreht Er die Situation um und wird vom Befragten zum Fragenden. Er befragt Pilatus auf eine Weise, die diesen mit der Wahrheit konfrontiert.

Pilatus meint „einen Fall“ vor sich zu haben, aber durch die Fragen des Herrn entdeckt er plötzlich, dass er der Wahrheit gegenübersteht. Dadurch ist er gezwungen, über seine Haltung Ihm gegenüber nachzudenken. Pilatus weicht der Frage aus. Er will keine Antwort darauf geben und drückt sich davor, indem er sagt, dass die Frage ihn nichts angehe, weil er kein Jude sei. Aus dem Klang seiner Antwort meint man auch eine gewisse Verachtung für die Juden herauszuhören. Obwohl er selbst nach dem Königtum des Herrn Jesus gefragt hat, macht er – nach der Gegenfrage des Herrn Jesus an ihn persönlich – die Frage nach dem Königtum auf einmal zu einer typisch jüdischen Angelegenheit. Er weist den Herrn Jesus nicht nur darauf hin, dass er doch kein Jude ist, sondern auch, dass Er von seinem eigenen Volk und dessen religiösen Führern ihm überliefert worden ist.

Als der Herr nun auf die Frage, ob Er ein König sei, nicht antwortet, kommt die nächste Frage: „Was hast du getan?“, d. h., welchen Grund hatten sie, Dich mir zu überliefern? Auf die Frage: „Was hast du getan?“, können wir sagen, dass jedes seiner Worte und jede seiner Taten, ja, sein ganzer Weg ein einziges großes Zeugnis davon war, wer Gott in seiner Liebe und Gnade zugunsten der Menschen ist. Er hat die Menschen in die Gegenwart Gottes gestellt und ihnen damit zugleich ihre Sünden ins Bewusstsein gebracht. Diesem Zeugnis können sie nicht entkommen, außer dadurch (wie sie meinen), dass sie Ihn aus dem Weg schaffen.

Auch auf die Frage, was Er getan habe, geht der Herr nicht ein. Er geht nur darauf ein, dass Pilatus seine Überlieferung an ihn festgestellt hat. Dabei soll Pilatus aber nicht meinen, Ihn nun in der Gewalt zu haben. Er hat es mit jemandem zu tun, der ein Reich besitzt. Dieses Reich ist allerdings nicht von dieser Welt, wie auch Er nicht von dieser Welt ist (Joh 8:23; Joh 17:14; 16), ebenso wie auch die Seinen nicht (Joh 17:14; 16). Es ist ein Reich, das in den Herzen von Menschen besteht, die Ihn als ihren Herrn angenommen haben (Röm 14:17).

Wenn sein Reich doch von dieser Welt wäre und Er als König seinen Machtanspruch über diese Welt zur Geltung bringen würde, dann hätte Er seinen Dienern Befehl gegeben, für Ihn zu kämpfen (Mt 26:53). Dann wäre Er weder den Juden, noch ihm, Pilatus, überliefert worden. Für ein solches Auftreten war jetzt aber die Zeit noch nicht gekommen. Diese Zeit wird ganz sicher kommen, aber zuerst musste das ganze Werk des Vaters erfüllt werden. Er wird also zuerst den Weg der Leiden, der Verwerfung und des Todes gehen müssen (Lk 24:26).

Mit diesen Worten bezeugt der Herr vor Pilatus das gute Bekenntnis (1Tim 6:13). Paulus stellt Timotheus – und damit auch uns – vor, dass dies auch unser Auftrag ist. Die Erfüllung dieses Auftrags beinhaltet, dass wir in unserem Leben dem Rechnung tragen und auch davon sprechen, dass es einen Herrn gibt, der unser Leben bestimmt. Ihm sind wir unterworfen, nicht menschlichen Mächten. Wenn wir uns menschlichen Einrichtungen unterwerfen, dann, weil der Herr es so will (1Pet 2:13; Röm 13:1). Er ist im Hinblick auf den römischen Kaiser jener „andere König“ (Apg 17:7), der zwar jetzt noch nicht sichtbar ist, dem wir uns aber doch unterwerfen und der damit auch unsere Stellung auf der Erde bestimmt.

Das Reich, zu dem wir gehören, ist auch heute noch „nicht von dieser Welt“. Darum ist es auch gegen die Gedanken Gottes, auf irgendeine Weise doch ein irdisches Reich zu errichten oder auch nur auf die Regierung Einfluss zu nehmen mit dem Ziel, auf diese Weise eine Obrigkeit zu bekommen, die die Grundsätze Gottes beachtet. Alle solche Bemühungen werden in Gottes Wort abgelehnt, wie wir u. a. in den Ermahnungen lesen können, die Paulus darüber den Korinthern schreibt (1Kor 4:8; 9).

Zeugnis für die Wahrheit

Pilatus glaubt, auf seine Frage nach dem Königtum des Herrn Jesus nun Antwort bekommen zu haben; dennoch fragt er jetzt, ob der Herr „ein König“ sei, d. h. in allgemeinerem Sinn. Der Herr bestätigt seine Schlussfolgerung. Er fügt aber hinzu, dass dies nicht das einzige Ziel seiner Geburt und seines Hineinkommens in die Welt gewesen sei. Dass Er „geboren“ ist, weist darauf hin, dass Er Mensch geworden ist; dass Er „in die Welt gekommen“ ist, darauf, dass Er schon vorher existierte. Das große, allem übergeordnete Ziel seiner Geburt und seines Kommens in die Welt ist es, der Wahrheit Zeugnis zu geben. Er ist Mensch geworden, um den Menschen den Vater zu bezeugen, von dem Er gekommen ist und den Er als der ewige Sohn immer schon gekannt hat.

Durch sein Zeugnis der Wahrheit wird sein Reich ausgebreitet. Wahrheit bedeutet, dass der wahre Charakter von etwas oder von jemandem in seinem Licht, mit seinen Augen, gesehen wird. Dann wird sichtbar, wer Gott ist, aber auch, wer der Mensch ist, aber auch, wie es um die Rechtmäßigkeit einer Obrigkeit bestellt ist. Alles, was der Herr gesagt und getan hat, ist ein großes Zeugnis der Wahrheit. Um seine Stimme hören zu können, muss ein Mensch „aus der Wahrheit“ (1Joh 3:19).

Schon früher hatte Er gesagt, dass seine Schafe seine Stimme hören (Joh 10:27). „Aus der Wahrheit sein“ bedeutet, dass jemand durch das Erkennen der Wahrheit zu neuem Leben gekommen ist und damit nun zu seinen Schafen gehört. Wer aus der Wahrheit ist, hat zuerst die Wahrheit über sich selbst als Sünder erkannt. Er hat das Wort der Wahrheit, das Evangelium seiner Rettung, gehört und geglaubt (Eph 1:13) und hat neues Leben empfangen. Damit ist solch ein Mensch auch imstande, jede Wahrheit, die der Sohn offenbart, aufzunehmen.

Für den römischen Richter Pilatus bedeutet die Suche nach der Wahrheit nichts anderes, als einer Fata Morgana nachzujagen. Für Pilatus gibt es keine Wahrheit. Daran erkennt man, dass er den Sohn als die Wahrheit nicht will und Ihn ablehnt. Dennoch will er sich selbst rein waschen, indem er den Juden vorstellt, dass er an dem Herrn Jesus keinerlei Schuld findet.

Nicht Ihn, sondern Barabbas

Um aus der Sackgasse herauszukommen, macht er den Juden einen anderen Vorschlag. Er erinnert sie an die Gewohnheit, ihnen am Passahfest einen Gefangenen freizulassen. Er schlägt ihnen auch vor, wen er freizulassen gedenkt. Über eine dem Volk vorgestellte Wahlmöglichkeit, wie wir in den anderen Evangelien lesen, spricht Johannes nicht. Die Wahl hat Pilatus für sie getroffen: Er schlägt vor, den Herrn Jesus freizulassen, den er „den König der Juden“ nennt. Alle Aufmerksamkeit ist auf Ihn gerichtet.

Die Reaktion des Volkes kommt unmittelbar. Eine Bedenkzeit brauchen sie nicht. Es trifft eigentlich gar nicht zu, hier von einer Wahlsituation zu sprechen. Sie sind nur von einem Motiv beseelt: dem Tod des Herrn Jesus. Ihn wollen sie endlich los sein. Was oder wen sie auch immer statt seiner bekommen – alles ist auf jeden Fall besser als der Herr Jesus. Mit ihrer Antwort bekunden sie ihre radikale Verwerfung des Herrn.

Der Name des Räubers, den sie an seiner Statt wählen und den sie rufen, ist sehr vielsagend. Sie wollen „Barabbas“ – das bedeutet „Sohn des Vaters“. Es ist klar, wer sein Vater ist. Er ist ein echter Sohn seines Vaters, des Teufels (Joh 8:44). „Barabbas aber war ein Räuber.“ Das ist das große Kennzeichen des Teufels, der Gott seiner Ehre beraubt hat. Hier steht also der Sohn dieses Vaters, des Teufels, neben dem Sohn des Vaters.

Mit der Entscheidung für diesen Räuber, der zugleich ein Aufrührer und Mörder ist (Mk 15:7), haben sie den Fortgang ihrer Geschichte festgelegt. Auf schreckliche Weise sind sie im Lauf der Jahrhunderte seither fortwährend Räubern, Mördern und Aufrührern zum Opfer gefallen. In den Regierungswegen Gottes haben sie geerntet, was sie gesät haben.

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