Proverbs 30:1-9

Einleitung

Dieses Kapitel verdankt seinen eindrucksvollen Charakter vor allem der tiefen Demut des Autors. Er bekennt diese Demut in den Spr 30:1-9. Mit dieser Haltung wird sowohl seine Abscheu gegenüber der Arroganz in all ihren Formen deutlich als auch seine beeindruckend offenherzige Beschreibung der Welt und ihrer Wege, wie er sie wahrnimmt. Die Gruppen von Menschen und Tieren, die er beschreibt, enthalten Belehrungen, die uns nicht aufgezwungen werden. Die vorherrschende Einstellung ist die des scharfen und oft freudigen Interesses. Dieses Interesse lädt uns ein, unsere Welt erneut mit dem Auge eines Glaubensmannes zu betrachten, der ein charaktervoller Wortkünstler und Beobachter ist.

Der Redende und die Angeredeten

Wir wissen nicht, wer „Agur“ war. Wir wissen lediglich, dass er der „Sohn Jakes“ war. Wer aber Jake war, wissen wir auch nicht. Dass sein Vater genannt wird, kann bedeuten, dass Agur ein weiser Sohn war, der auf die Belehrung seines Vaters hörte. Dass er ein weiser Sohn war, zeigt sich in den weisen Worten, die wir von ihm in diesem Kapitel haben. Sein Vater wird sich über seinen weisen Sohn gefreut haben. Wir sind dieser Vater-Sohn-Beziehung schon wiederholt in den vorhergehenden Kapiteln begegnet. Diese Beziehung ist die Grundlage für die Belehrungen in diesem Buch.

Die Tatsache, dass Agur nur hier erwähnt wird und uns sonst unbekannt ist, kann darauf hinweisen, dass es hier nicht so sehr um seine Person geht, sondern um seine „Worte“. Dadurch ist er zugleich ein Vorbild für uns. Wir alle haben einen Namen, doch wer kennt uns? Nur ein paar wenige. Wenn aber unser Name mit unseren weisen Worten in Verbindung gebracht wird, wird unser Name unserer weisen Worte wegen weiterbestehen.

Die Worte, die Agur gesprochen hat, sind nicht einfach nur Worte. Es sind vielmehr Worte, die als „Aussprüche“ oder „Last“ bezeichnet werden. Das Wort „Ausspruch“ finden wir oft bei den Propheten (Jes 13:1; Jes 14:28; Jes 15:1; Jes 17:1; Jes 19:1; Hab 1:1). Agurs Worte bringen eine prophetische Botschaft zum Ausdruck, die der Geist Gottes als eine Last auf sein Herz gelegt hat. Er fühlt ihre Last. Er erfährt selbst, was er schreibt. Das macht ihn zu einem Propheten, der zu unserem Herzen und Gewissen spricht (Joh 4:17-19).

Er spricht als der „Mann“. Es gibt nichts Überhebliches bei ihm. Der hochmütige Anspruch „So spricht der HERR“, den die Leute bisweilen im Mund führen, um auf sich aufmerksam zu machen, fehlt bei ihm völlig. Er nimmt den bescheidenen Platz eines Menschen ein, der sich bewusst ist, dass er in der Gegenwart Gottes ist. Gleichzeitig wird klar, dass dieser Mann durch den Geist Gottes spricht (4Mo 24:3; 2Sam 23:1).

Auch über Ithiel und Ukal wissen wir nicht mehr, als dass ihre Namen hier genannt werden. Möglicherweise sind das Agurs Kinder, die er in der Erkenntnis göttlicher Dinge unterrichtet. Es ist auch möglich, dass es sich um seine Schüler handelt, denen er Weisheit lehren will. Wie dem auch sei, er hatte durch eine persönliche Beziehung mit diesen zwei Personen zu tun.

Es fällt auf, dass er zu „Ithiel, zu Ithiel und Ukal“ spricht. Den Namen „Ithiel“ erwähnt er zweimal. In der Anwendung können wir vielleicht sagen, dass er auf Fragen eingegangen ist, die nur durch Ithiel gestellt wurden und auf Fragen, die gemeinsam durch Ithiel und Ukal gestellt wurden. Seine Aufmerksamkeit galt also persönlichen und gemeinsamen Fragen.

Agurs Bekenntnis

Wenn Agur mit seiner Belehrung beginnt, spricht er nicht von oben herab wie jemand, der glaubt, alles zu wissen und auf jede Frage eine Antwort hat. Er stellt schon zu Beginn fest, dass es ihm mehr als allen anderen an Vernunft fehlt (Spr 30:2). Auch gibt er zu, dass es ihm an Menschenverstand fehlt. In Spr 30:4 sehen wir, dass er zu diesem Schluss kommt, weil er bei allem Auf- und Umherblicken an Gott denkt. Im Hinblick auf Gott, wer Er ist und die Wege, die Er geht, erscheinen sein Verständnis und seine Einsicht als nichtig. Aus dieser Sicht nimmt er an, dass andere mehr Verständnis haben als er. Das ist der Beweis für wahres Verständnis und wahre Einsicht.

Jeder, der seine eigene Unfähigkeit Gott gegenüber erkennt und damit zugibt, dass er nicht versteht, wer Gott ist und was Er tut, besitzt die richtige Einsicht und Gesinnung, um andere zu belehren. Damit ist nicht gemeint, dass es Agur an intellektuellen Fähigkeiten fehlte. Es bedeutet vielmehr, dass er zugab, völlig unwissend zu sein in Bezug auf ein geistliches Verständnis des Lebens mit all seinen Fragen. Gott allein ist vollkommen in seinem Wissen und Erkennen, wenn es um das Leben geht, und nur Er ist fähig, darüber Menschen zu informieren.

Der Psalmdichter Asaph kam auf einem anderen Weg zu der selben Schlussfolgerung wie Agur: „Da war ich dumm und wusste nichts; ein Tier war ich bei dir“ (Ps 73:22). Das ist der Zustand, in dem sich die ganze Menschheit befindet. Es sind jedoch nur wenige, die das erkennen. Es sind nur die, die durch den Glauben mit Gott verbunden sind und in einer lebendigen Beziehung mit Ihm leben, wie wir das bei Agur und Asaph sehen. Wer ebenso in diesem Bewusstsein lebt, empfindet es persönlich so intensiv, dass er sich in seinen eigenen Augen unwissender vorkommt als alle anderen Menschen.

Im Anschluss an Spr 30:2 spricht er in Spr 30:3 zuerst von „Weisheit“, die er nicht gelernt hat und von der „Erkenntnis des Heiligen“, die er nicht besitzt. Agur sagt hier, dass die Belehrung, die er von Menschen bekommen hat, in ihm keinerlei Weisheit bewirkt hat, weder im Blick auf göttliche Dinge noch auf Gott selbst. Mit „des Heiligen“ werden nicht Menschen bezeichnet, sondern Gott.

Gott ist erst im Neuen Testament völlig als der dreieine Gott offenbart. Agur und Salomo wussten das damals noch nicht. Und doch haben sie durch das Wirken des Geistes vielleicht schon etwas davon geahnt (siehe die Ausdrücke „uns“ und „nach unserem“ in 1. Mose 1,26). Wir sehen das bei Agur in den Fragen am Ende von Spr 30:4, wo die Rede ist von seinem Namen und dem Namen seines Sohnes.

Was er sagt, beweist das Wirken des Geistes Gottes in seinem Herzen. Dadurch wird ihm bewusst, wer er in sich selbst ist und was er aus sich selbst heraus weiß. Er gehörte einst der Finsternis an, in der auch der Verstand des Menschen verfinstert ist. Für einen Menschen mit einem verfinsterten Verstand gleicht die Einsicht in das Leben einem Umherirren in der Finsternis. Deshalb war es nicht möglich, weder über Weisheit noch über die Erkenntnis des heiligen Gottes etwas zu lernen.

Agur bringt zum Ausdruck, dass Gottes Weisheit so unfassbar groß ist, dass das, was er gelernt hat, immer noch unbedeutend ist. Je tiefer ein Mensch in das Geheimnis der Weisheit eindringt und verstehen lernt, wer Gott und Christus sind, desto mehr wird er sich bewusst, wie wenig er weiß. Die Grenzen des Verstandes und der Weisheit zu kennen, ist wahre Weisheit. Als Gläubige dürfen wir vertraut sein mit der Breite, Länge, Höhe und Tiefe der Ratschlüsse Gottes und der Liebe Christi, wobei wir uns sehr wohl bewusst sind, dass diese Liebe alle Erkenntnis übersteigt (Eph 3:18; 19).

Gott offenbart sich in seinem Sohn

Mit sechs Fragen macht Agur deutlich, dass er – und das gilt für alle Menschen – in der Tat völlig unwissend über Gott und göttliche Dinge ist. Diese Fragen betonen das Handeln Gottes und zeigen, dass es absurd für einen Sterblichen ist, zu denken, dass er in der Lage sei, Gottes Wirken zu erklären oder sich selbst mit Gott zu vergleichen. Die Fragen beweisen die Erhabenheit Gottes und das völlige Unvermögen des Menschen (vgl. Jes 40:12; 5Mo 30:11-14; Röm 10:6; 7; Eph 4:9).

Es ist unbestritten, dass der „Himmel“ über uns existiert und dass das Interesse des Menschen schon seit frühesten Zeiten dem Himmel gilt. Die Reise zum Mond zeigt den Wunsch, ihn zu erforschen. Auch die Untersuchung des Himmels, die der Mensch von der Erde aus vornimmt, macht ihm bewusst, dass er lediglich am Rand des Universums schnüffelt. Doch in den Himmel hinaufzusteigen, um sich ihn anzuschauen, ist eine ganz andere Sache. Wer hat das je getan? Oder wer ist von dort herabgekommen, um etwas über die Geheimnisse des Himmels zu berichten?

Wir wissen, dass Christus in den Himmel hinaufgestiegen ist. Dies geschah, nachdem Er das Erlösungswerk am Kreuz vollbracht hatte und vom Tod auferstanden war. Er sandte von dort den Heiligen Geist herab. Der Geist kam herab, um den Menschen mitzuteilen, was es im Himmel gibt (Joh 14:18; Joh 16:13-15). Als der Herr Jesus auf der Erde war, konnte Er sagen: „Und niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel als nur der, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen, der im Himmel ist“ (Joh 3:13). Er, der nach dem Werk am Kreuz in den Himmel auffahren würde, war damals auf der Erde und gleichzeitig im Himmel. Das war so, weil Er der eingeborene Sohn Gottes ist. Er ist die Antwort auf die Fragen Agurs.

Wenn wir uns unter dem Himmel umschauen, hier auf der Erde, sehen wir auch da Dinge, die der Mensch nicht fassen oder kontrollieren kann. Den unsichtbaren „Wind“ kann man nicht in Fäuste sammeln und seiner Kraft kann man nicht widerstehen. Das gilt aber nicht für den Sohn Gottes. In der geistlichen Anwendung weist der Wind auf die Schwierigkeiten hin, die in unser Leben kommen. Wir haben darauf keinen Einfluss, doch wir dürfen wissen, dass Christus auch den Wind in unserem Leben in seiner Hand hat.

Dasselbe gilt für die greifbaren „Wasser“, über die der Mensch auch keinerlei Kontrolle hat. Wasser sprechen von Prüfungen, die in unser Leben kommen und uns das Empfinden geben, dass wir ertrinken. Doch Er ist bei uns in den Wassern der Prüfung (Jes 43:2). Und was sollen wir von allen „Enden der Erde“ denken? Wer hat sie „aufgerichtet“, oder wer gibt ihnen Stabilität? Auch hier ist Er selbst die Antwort. Er gibt unserem Leben Festigkeit.

Die Atmosphäre (Wind), das Flüssige (Wasser) und das Feste (Erde), alles befindet sich außerhalb der Kontrolle des Menschen. Trotzdem werden sie kontrolliert. Agur fragt nach dem Namen dessen, der dies tut, und nach dem Namen seines Sohnes. Allerdings ist Gott für ihn noch immer unbegreiflich, so unnahbar, so voller Geheimnisse. Nach dem Namen zu fragen, bedeutet, nach seinem Wesen und seinen Eigenschaften zu fragen. Wer kann sie völlig kennen?

Agur fragt auch nach dem Namen seines Sohnes. Wenn Gott so erhaben und so unbegreiflich ist, gibt es vielleicht jemanden, der Ihn vergegenwärtigen kann? Gibt es jemanden, der im Namen Gottes sprechen oder Ihn erklären kann? Seine Frage zeigt, dass er Gott sehr nahe ist und empfindet, dass da vielleicht ein Sohn ist, der mit Ihm die göttlichen Eigenschaften teilt, weil Er sein Sohn ist. Dabei müssen wir bedenken, dass der Sohn nicht im Namen Gottes spricht, sondern als Gott spricht, weil Er Gott ist.

Gott „hat … am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohn“ (Heb 1:1; 2). Die Propheten waren Menschen, durch die Gott sich an sein Volk wandte. Aber der Herr Jesus, der Sohn Gottes, ist nicht ein Mittel, durch das Gott spricht. Das Sprechen des Herrn Jesus ist das Sprechen Gottes selbst. Die Propheten sprachen im Namen Gottes. Der Herr Jesus sprach nicht im Namen Gottes, sondern in seinem Wesen als Gott. Das tat Er als Mensch auf der Erde, doch dieser Mensch ist Gott der Sohn. Gott selbst redet als eine göttliche Person. Diese Person ist der Sohn.

Wie bereits bemerkt, ist die Wahrheit über den dreieinen Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist – erst im Neuen Testament völlig offenbart. Hier im Alten Testament ist das noch verborgen. Wir wissen, dass der Herr Jesus der ewige Sohn ist, dem Gott nicht gewisse Eigenschaften übertragen hat, sondern Er ist ganz und gar eins mit Ihm und hat Ihn auf der Erde völlig offenbart: „Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht“ (Joh 1:18). Zugleich bleibt es auch für uns ein unergründliches Geheimnis, wer der Sohn wirklich ist, denn „niemand erkennt den Sohn als nur der Vater“ (Mt 11:27).

Für uns sind die Fragen von Spr 30:4 im Neuen Testament beantwortet. Dort sehen wir, dass sie Gott und seine Offenbarung im Sohn betreffen. Wo immer Gott sich offenbart, tut Er das im Sohn. Wir sehen auch, dass der Sohn der Schöpfer und Erhalter aller Dinge ist (Joh 1:1-3; Kol 1:16; Heb 1:2). Alles untersteht seiner Kontrolle, und Er führt seine Schöpfung zu dem Ziel, das Er sich gesetzt hat. Gott wird einmal alles seinen Füßen unterwerfen (Heb 2:8), weil Er das Erlösungswerk vollbracht hat.

Gott offenbart sich in seinem Wort

Von seinen Fragen über Gott bezüglich der Schöpfung geht Agur über zu den Worten Gottes, zu dem, was Er gesagt hat (Spr 30:5). Gott offenbart sich in der Schöpfung, und Er offenbart sich in seinem Wort. Agur weiß, dass die Antworten auf die Fragen, die er eben gestellt hat, im Wort Gottes stehen. Gott kann nur durch sein Wort erkannt werden, denn darin hat Er sich völlig offenbart, während in der Schöpfung lediglich seine ewige Kraft und Göttlichkeit sichtbar werden (Röm 1:20).

Agur hat keinerlei Zweifel an dem, was Gott gesagt hat. „Alle Rede“, alles was Gott gesprochen hat, ohne irgendeine Ausnahme, ist „geläutert“, rein und makellos: „Die Worte des HERRN sind reine Worte – Silber, das geläutert im Schmelztiegel zur Erde fließt, siebenmal gereinigt“ (Ps 12:7). Geläutert bedeutet, dass es jede Feuerprobe überstanden hat und dass dadurch seine absolute Reinheit sichtbar wurde. Der Beweis ist gegeben, und dem kann man nicht widersprechen. Es bedeutet auch, dass das ganze Wort Gottes vertrauenswürdig ist. Nichts darin ist trügerisch oder falsch, ob es nun um Geschichte, Gebote, Versprechen oder Drohungen geht.

Die zweite Hälfte des Verses zeigt uns den enormen Wert des Wortes für unser tägliches Leben. Wer vom Wert des Wortes überzeugt ist, wird „bei ihm Zuflucht suchen“. Hier sehen wir die Einheit des Wortes mit der Person des Sohnes. Wir sehen diese Einheit auch in Hebräer 4, wo wir lesen, dass vor dem Wort Gottes kein Geschöpf unsichtbar ist (Heb 4:12; 13). Für die, die zum Wort, das ist der Sohn, Zuflucht nehmen, ist dieses Wort, ja, Er selbst, ein Schild. Wenn wir in unserem Glauben geprüft werden, werden das Wort Gottes und seine Verheißungen sich als Schild und Schutz erweisen. Es ist sicher, sich in Ihm zu bergen. Das geschieht auch, wenn wir sein Wort lesen und beachten: „Gott – sein Weg ist vollkommen; das Wort des HERRN ist geläutert; ein Schild ist er allen, die zu ihm Zuflucht nehmen“ (Ps 18:31).

Auf das Vertrauen, von dem in Spr 30:5 die Rede ist, folgt in Spr 30:6 die Warnung, den Worten Gottes nichts hinzuzufügen (5Mo 4:2; Off 22:18; 19). Diese Tendenz macht sich nur allzu oft bemerkbar. Das Wort hat nicht nötig, auf Irrtümer oder Vollständigkeit hin kontrolliert zu werden; es ist fehlerfrei und vollständig. Was sich als rein erwiesen hat, wird durch einen Zusatz verunreinigt.

Wer etwas hinzutut, ist eingebildet und maßt sich selbst Göttlichkeit an. Jede Hinzufügung fremder Elemente macht es unrein. Wer das tut, beweist, dass er ein Lügner ist, jemand, der nicht in der Wahrheit steht. Hinzufügungen sehen wir beispielsweise, wenn menschliche Schriftstücke in der Praxis dieselbe Autorität bekommen wie die Schrift oder sogar die Auslegung der Bibel beherrschen. Für Letzteres ist die (theistische) Evolutionstheorie ein Beispiel.

Agurs Gebet

Nach der Offenbarung Gottes in der Schöpfung (Spr 30:4) und in seinem Wort (Spr 30:5; 6) folgt das Gebet (Spr 30:7). Wort und Gebet gehören immer zusammen. Agur hat sein absolutes Vertrauen zum Wort Gottes ausgedrückt. Nun wendet er sich im Gebet an Gott. Er lebt mit dem Gott, dem er vertraut und in dem er sich birgt. Durch sein Gebet nimmt er die Stellung der Abhängigkeit von Gott ein. Er verlässt sich nicht auf sich selbst, sondern vertraut allein auf Gott. In diesem Vertrauen spricht er ein kurzes und kräftiges Gebet.

Er bittet um „zweierlei“. Die beiden Dinge wird er sogleich nennen, doch zuerst bittet er Gott, sie ihm nicht zu verweigern, bevor er stirbt. „Ehe ich sterbe“ bedeutet: solange ich lebe. Indem Agur das so sagt, macht er deutlich, dass er in dem Bewusstsein lebt, dass das Leben auf der Erde begrenzt ist, und auch, dass es darum geht, bis ans Ende auszuharren. Die Erinnerung an das Sterben, bedeutet auch, dass er sich der Tatsache bewusst ist, dass er Rechenschaft ablegen muss für das, was er in seinem Leben getan hat. Agur will zur Ehre Gottes leben und nicht von Ihm gerichtet werden.

Was Agur in den Spr 30:8; 9 sagt, zeigt große Selbsterkenntnis. Er ist sich der Gefahr des Sündigens bewusst. Zuallererst erkennt er die Gefahr von „Eitlem“ in seinem Herzen und des „Lügenwortes“ in seinem Mund (Spr 30:8). Hier geht es um die Gesinnung, das Innenleben, die Motive. Es geht um Sünde und Lüge, durch die sich die Sünde ausdrückt, um das Eitle im Denken und die Lüge im Reden.

Sein Gebet ist, dass Gott all das von ihm entfernen möge. In Spr 30:6 hat er zu seinen Kindern oder Schülern Ithiel und Ukal gesagt, dass sie nichts zum Wort Gottes hinzufügen sollen, damit sie sich nicht als Lügner erweisen. Nun erkennt er selbst seine Schwachheit und Neigung zum Sündigen und bittet Gott, ihn nicht in Versuchung zu führen, sondern ihn zu bewahren vor dem Bösen und dessen Einflüssen (Mt 6:13). Wer andere warnt, muss beten, dass er selbst vor dem Bösen bewahrt wird, vor dem er warnt.

Agur erkennt, dass allein Gottes Gnade ihn davor bewahren kann. Er weiß, dass er zu Eitlem und Lüge fähig ist und dass er in sich selbst keinerlei Kraft hat, diesen zu widerstehen. Doch Gott hat diese Kraft. So findet er Ruhe in Gott im Hinblick auf diese Gefahren.

Es gibt jedoch auch noch andere Gefahren, die mehr in den Umständen lauern; dadurch werden die Motive oder der Charakter des Menschen bedroht (Spr 30:8). Er wünscht sich Ausgewogenheit in seinen materiellen Umständen. Er sucht keine großen Dinge im Leben. Konkret bittet er Gott, ihm weder Armut noch Reichtum zu geben. Er möchte vielmehr, dass Gott ihn mit dem ihm „beschiedenen Brot“ speist.

Das ihm beschiedene Brot ist das Brot, das täglich nötig ist. Das entspricht dem, was der Herr Jesus seine Jünger zum Thema Gebet lehrte: „Unser nötiges Brot gib uns heute“ (Mt 6:11). Mehr ist Reichtum, weniger ist Armut: „Wenn wir aber Nahrung und Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen“ (1Tim 6:8). Es geht Agur an sich nicht um Armut oder Reichtum, sondern um das, was damit verbunden ist, wozu beides führen kann. Darüber spricht er in Spr 30:9.

Agur wünscht sich die glücklichste Art des Lebens. Armut und Reichtum haben beide ihre Gefahren. Er will frei sein von den Sorgen, die die Armut mit sich bringt. Auch will er nicht den Versuchungen erliegen, die mit dem Reichtum verbunden sind. Frei zu sein von beiden Gefahren, betrachtet er als den besten Weg, Gott zu dienen.

Er macht keine Vorschrift, als wäre dies der einzige Weg, auf dem ein Mensch glücklich sein und Gott dienen kann. Gott kann jemanden reich machen. Dann kann er Gott mit seinem Reichtum dienen. Wenn Gott jemanden arm macht, darf er in seinen Umständen auf Gott vertrauen. Paulus hat im Leben gelernt, mit beiden Umständen umzugehen (Phil 4:12).

In Spr 30:9 sagt Agur, worin die Gefahren von Reichtum und Armut liegen. Wenn er einer der beiden Gefahren erliegt, kann ihn das zur Sünde führen. Dadurch würde sein Leben keine Frucht mehr für Gott bringen. Das würde Saatkörnern gleichen, die unter die Dornen fallen; der Herr Jesus sagt dazu im Gleichnis vom Sämann: „Der aber in die Dornen gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört; und die Sorge der Welt und der Betrug des Reichtums ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht“ (Mt 13:22). Den „Betrug des Reichtums“ finden wird in dem Wort „satt“ (Spr 30:9), und die „Sorgen der Welt“ finden wir in dem Wort „verarmen“ (Spr 30:9).

Agur erkennt, dass er in der Gefahr steht, von Gott unabhängig zu werden, Ihn nicht mehr nötig zu haben und Ihn dadurch zu verleugnen, wenn er zu viel hat (5Mo 8:11-14). Dann würde er wie der ungläubige Pharao handeln, der ebenfalls sagte: „Wer ist der HERR?“ (2Mo 5:2). Die herausfordernde Frage „Wer ist der HERR?“ bedeutet, dass jemand sich Ihm nicht verpflichtet fühlt, ohne Ihn leben kann und mit sich genug hat. Der Wunsch Agurs, nicht zu viel zu besitzen, betrifft seinen Umgang mit dem HERRN. In seinem Denken geht es um Gott.

Die Gefahr, die mit Armut verbunden ist, liegt mehr darin, etwas Falsches zu tun. Armut bringt die große Versuchung mit sich, unehrlich zu sein und zu stehlen. Was macht jemand, wenn er sehr hungrig ist und irgendwo etwas Essbares sieht, was einem anderen gehört? Man kann sich selbst damit beruhigen, dass der andere es nicht braucht und man es nötig hat, um am Leben zu bleiben. Vielleicht denkst du dabei an deine Kinder, die Hunger leiden. In diesem Fall scheint es gerechtfertigt zu sein. Doch Diebstahl ist niemals gerechtfertigt, wie sehr man im Fall von Hunger auch dafür Verständnis haben kann (Spr 6:30; 31).

Warum fürchtet sich Agur vor dem Stehlen? Weil er dann ins Gefängnis kommt? Nein, er fürchtet sich davor, weil dann der Name Gottes verunehrt wird. Agur war bekannt als ein treuer, gottesfürchtiger Gläubiger. Welche Schande würde er auf den Namen Gottes werfen, wenn er stahl. Er sagt ausdrücklich mein Gott, was zeigt, dass er in einer persönlichen und lebendigen Beziehung mit Ihm lebt. Deshalb ist ihm der Gedanke unerträglich, dass er sein Bekenntnis dieses Namens durch eine sündige Tat beschmutzen könnte. Deshalb bittet er Gott, ihn nicht verarmen zu lassen. So wie sich sein Denken bei der Gefahr des Reichtums um Gott dreht, so ist das auch im Blick auf die Armut der Fall.

Agur gibt uns das seltene Beispiel eines Menschen, der um seine Schwachheit weiß und sie offen bekennt. Er erklärt, dass er sich selbst nicht traut. Wir sind durchaus in der Lage, ganz allgemein festzustellen, dass dem Menschen nicht zu trauen ist, doch es ist etwas ganz anderes, wenn wir sagen: „Ich traue mir selbst nicht.“ Agur traute sich selbst nicht, sondern vertraute auf Gott.

Wir haben gesehen, wie Agur seine eigene Unkenntnis zugab (Spr 30:2; 3) und sich für die Sicherheit im Leben auf Gottes Wort stützte (Spr 30:5; 6). Weiter haben wir gesehen, dass er Gott bittet, ihn vor allen Fällen von Versuchung zu bewahren (Spr 30:7-9). Er hat über seine Unwissenheit gesprochen, doch er beruft sich auf das Wort Gottes und betet – beides zeugt von großer Weisheit und Kenntnis. Darin ist er viel weiser und hat weitaus mehr Kenntnis, als die Menschen im Allgemeinen. Er erkennt die Gefahr der Armut und er kennt die ernsten Gefahren des Reichtums, auf den ein Mensch so leicht vertraut und wodurch er vergisst, dass er Gott alles zu verdanken hat.

Sein Gebet erinnert an das Gebet des Jabez (1Chr 4:10), allerdings steht es im Gegensatz dazu. Vielleicht müssen wir zugeben, dass wir eher geneigt sind, das Gebet des Jabez zu beten als das des Agur.

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